An den Bayern vorbei: Als Holstein Kiel ins Pokalhalbfinale stürmte.
„Der Pokal hat seine eigenen Gesetze!“ – An manchen Abenden hat diese altbekannte Floskel durchaus seine Daseinsberechtigung. In der Saison 2020/21 hat unser nächster Kontrahent Holstein Kiel gezeigt, dass es sich in jeder Runde lohnt, an seine Chance zu glauben. Bei „Gegner im Detail“ werfen wir heute einen Blick auf eine besondere Pokalsaison.

In nahezu jeder Teamsportart gilt das Gesetz des Stärkeren. Ganz einfach gesagt bedeutet das: Die auf dem Papier besser besetzte Mannschaft setzt sich im Normalfall durch. Auch im Fußball findet diese Regel in der Theorie Anwendung. In der Praxis gibt es allerdings kaum eine Sportart, in der dieser Grundsatz so sehr an Gewicht verlieren kann, wie es im Fußballgeschäft der Fall ist. Das gilt insbesondere für K.O.-Spiele. Diese bieten nicht nur mindestens 90 Minuten Spannung, sondern auch einen definitiven Sieger. Ob gegen einen unterklassigen Gegner oder eine vermeintlich übermächtige Spitzenmannschaft, es sind oft Nuancen, die über Sieg und Niederlage entscheiden. Wenn von den eigenen Gesetzen des Pokals gesprochen wird, dann geschieht das in Abgrenzung zu den Gegebenheiten, die den Ligabetrieb prägen. Denn der Pflichtspielalltag beruht auf wiederholbaren Vorkommnissen und damit auf Tendenzen und Mustern, die über einen längeren Zeitraum bestätigt werden. In Pokalspielen hingegen zählt das Hier und Jetzt. Dass in diesem Szenario alles möglich ist, hat Holstein Kiel in der Pokal-Saison 2020/21 bewiesen.
Erst die Pflichtaufgabe, dann die Sensation!
Im ersten Pflichtspiel der neuen Saison machte Holstein Kiel den Einzug in die zweite Runde des DFB-Pokals perfekt. Die „Störche“ bezwangen den baden-württembergischen Oberligisten 1. FC Rielasingen-Arlen souverän mit 7:1. Der Sieg gegen die Rielasinger ebnete den Weg für eine Achterbahnfahrt der Gefühle.
Für die zweite Runde hatte die Losfee den härtesten Brocken des Wettbewerbs parat: Den FC Bayern München, seines Zeichens amtierender Titelverteidiger. Doch die Norddeutschen schreckten nicht vor dieser Aufgabe zurück. Sie nahmen gegen die Bayern das Herz in beide Hände und lieferten einen dramatischen Pokalfight. Der Favorit hatte in der ersten Hälfte standesgemäß knapp zwei Drittel Ballbesitz und gewann 64 Prozent der Zweikämpfe. Dank einer geordneten Kieler Defensivleistung ging ihnen allerdings die Leichtigkeit ab. Aus einer Abseitsposition heraus gelang Serge Gnabry dennoch der Dosenöffner. Da in der zweiten Pokalrunde noch kein Videoassistent im Einsatz ist, hatte der Treffer Bestand. Doch das Gegentor brachte die nach spielerischen Lösungen suchenden „Störche“ nicht aus dem Konzept. Mit dem ersten Torschuss gelang Routinier Fin Bartels der Ausgleich zum 1:1-Halbzeitstand.
Kurz nach Wiederbeginn gingen die Bayern erneut in Front: Sané trat einen Freistoß aus der zweiten Reihe direkt in den rechten Winkel. Die Partie blieb bis zum Schluss spannend und hielt in der fünften Minute der Nachspielzeit noch eine Pointe bereit: Kapitän Hauke Wahl köpfte die letzte Flanke des Spiels zum Ausgleich in die Maschen – Es gab Verlängerung. Die Holsteiner hielten mit Glück und Geschick das Ergebnis und retteten sich ins Elfmeterschießen. Nachdem der Gastgeber im Spielverlauf zwei Rückstände ausgleichen konnte, behielt er auch im Elfmeterschießen die Nerven. Zehn Jahre nach der letzten Pokalserie gelang damit der große Coup! Der ehemalige KSC-Spieler Jonas Meffert zeigte sich nach dem Spiel emotional: „Ich kann es kaum glauben. Das ist etwas ganz Besonderes. Man hat mit der Zeit gemerkt, dass etwas möglich ist“, sagte er nach dem Elfmeterkrimi. Die Bayern waren letztmals vor mehr als zwei Jahrzehnten in der zweiten Pokalrunde ausgeschieden.
Schluss erst im Halbfinale
Im Achtelfinale wartete Ligakonkurrent SV Darmstadt 98. Nachdem die Holsteiner kurz vor Ablauf der regulären Spielzeit den Ausgleich hinnehmen mussten, ging auch diese Partie über die vollen 120 Minuten. Auch in der Verlängerung war kein Sieger auszumachen. Somit fiel die Entscheidung erneut im Elfmeterschießen. Auch dieses Mal präsentierten sich die Kieler nervenstark, wodurch die KSV erstmals seit 2012 wieder ins Viertelfinale des DFB-Pokals einzog.
Dort folgte ein ungefährdeter 3:0-Auswärtssieg bei Regionalligist Rot-Weiss Essen, dank dem die „Störche“ erstmals in ihrer Vereinsgeschichte ins Halbfinale einzogen. In diesem für die Kieler historischen Spiel präsentierte sich der Gegner aus Dortmund jedoch als eine Nummer zu groß. Bereits zur Halbzeit führte der Bundesligist mit 5:0, im zweiten Durchgang blieb der Spielstand unverändert.
Das Ausscheiden nach dieser deutlichen Niederlage soll allerdings nicht über eine eindrucksvolle Energieleistung der fünf Pokalspiele hinwegtäuschen. Es ist keine Selbstverständlichkeit, nach zweifacher Corona bedingter Quarantäne den großen Favoriten aus München rauszuwerfen und bis ins Halbfinale zu marschieren. Der Kieler Lauf steht symbolisch für den packenden Charakter von Pokalspielen, die jeder Fußballfan mit Spannung und Faszination verbindet.